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Kulturelle Identität 1

Michael Seibel •

Michael Seibel - schon wieder der clash of civilisation!

   (Last Update: 10.01.2016)

Neuerdings fällt wieder vermehrt der Begriff „kulturelle Identität“. Im Hintergrund stehen als eine Art »drole de guerre« Konflikte nicht miteinander vereinbarer Kulturen im Raum. Aber ist Konfliktursache wirklich eine Unvereinbarkeit von Kulturen? Kulturkontakte waren bislang meist ein Ergebnis von Expansion und Kolonisation, von Veränderungen in der Kommunikation und im Verkehr oder von Armutswanderung, eher Zusammenstöße als Berührungen. Die Konflikte dabei waren im Kern machtpolitische und wirtschaftliche und nicht primär kulturelle. Die Bedingungen von Kulturkontakten waren ungünstig. Kulturkontakte dürften dabei eher ungewollte Effekte gewesen sein. Und da, wo sie dem ersten Eindruck nach besser sind, beim Tourismus, ist das Konfliktpotential deutlich kleiner.

Kann es dennoch sinnvoll sein, beim Verständnis von Konflikte auf unterschiedliche kulturelle Identitäten hinzuweisen?

Um sinnvoll von kultureller Identität reden zu können und einschätzen zu können, was wo zwischen wem möglicherweise aufgrund unterschiedlicher kultureller Identitäten nicht vereinbar ist, müsste man mindestens angeben, was man mit Kultur meint und was mit Identität.

Abweichendes Verhalten erklären?


Die Rede von kultureller Identität wird häufig geführt, um abweichendes Verhalten zu erklären. Menschen bewerten, so wird gesagt, etwas anders als andere aufgrund ihrer anderen kulturellen Identität und dementsprechend handeln sie anders und brechen dadurch u. U. Regeln. Aber müsste, wer so argumentiert, dann nicht auch behaupten, dass es Deutschen, die sich nicht an die Gesetze halten, im Grunde ebenfalls an kultureller Identität mangelt?

Was hat man sich unter kultureller Identität vorzustellen? Das wird zumeist nicht erklärt. In politischen Debatten hierzulande stehen Diskutanten, die von konfliktreichen Gräben zwischen den Kulturen sprechen, anderen Diskutanten gegenüber, die ebenfalls gern von Kultur sprechen, nur in diesem Zusammenhang nicht gern über Konflikte. Schauen diese zweiten auf Konflikte, sehen sie in der Regel nur Individuen, Gruppen oder Klassen, aber keine Kulturkonflikte. Die ersten, meist die konservativen, sprechen dem Kulturellen hingegen eine Spreng- aber auch Vereinigungskraft zu, die sie nicht weiter zu explizieren in der Lage sind. Ihre Opponenten finden hingegen alle Brisanz an anderer Stelle als in einer die Menschen verbindenden oder trennenden Kultur.

Es scheint ganz selbstverständlich zu sein, dass zwei Menschen, die die selbe Schule besucht haben, etwas gemein haben, oder zwei, die die gleichen religiösen Riten praktizieren oder zwei, die dieselbe Sprache sprechen, zwei, die miteinander verwandt sind … aber was folgt daraus? Und wie begründet jemand, der meint, dass etwas daraus folgt, seine Meinung? Warum hält andererseits jemand, der meint, dass nichts daraus folgt, am Begriff Kultur überhaupt noch fest?

Tat und Grund


Mit dem Begriff der kulturellen Identität kann man versuchen, die Frage zu beantworten: was motiviert Taten? Aber macht, wer so fragt, nicht eine völlig künstliche Trennung zwischen Tat und Motiv? Wie denkt man sich das Verhältnis einer Tat zu ihrem Grund? Das Argument stammt von Nietzsche:

„Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als Tun, als Wirkung eines Subjekts nimmt, das Blitz heißt, so trennt die Volks-Moral auch die Stärke von den Äußerungen der Stärke ab, wie als ob es hinter dem Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es freistünde, Stärke zu äußern oder auch nicht. Aber es gibt kein solches Substrat; es gibt kein »Sein« hinter dem Tun, Wirken, Werden; »der Täter« ist zum Tun bloß hinzugedichtet – das Tun ist alles.“
(Nietzsche,Genealogie der Moral)

Den Grund des Tuns vom Tun selber trennen, das wäre die von Nietzsche kritisierte Erfindung eines Subjekts. Es kann in diesen Sinn nicht Sache des Begriffs kulturelle Identität sein, Taten so etwas wie eine Notwendigkeit zu geben. Kulturelle Identität darf demnach nicht als Erklärungsgrund von Taten missverstanden werden, sondern hat nur dann mit Handlungen etwas zu tun, wenn sie Teil des Tuns selbst ist. Wie soll man sich das vorstellen?

Überlieferte Bedeutungen, Narrative, Wertvorstellungen, Symbole, die Anspruch darauf machen, verstanden zu werden, finden sich regelmäßig, wenn jemand im sozialen Raum handelt. Niemand handelt, ohne von anderen umgeben zu sein, selbst dann nicht, wenn er allein handelt. Kulturelle Identität ist dabei der Aspekt der Verbindlichkeit, der Legitimation, der Verabredung zur Tat und als das selbst bereits ein Tun, das gelingen oder scheitern kann.

kulturelle Identität“ - ein alter Bekannter


Der Begriff „kulturelle Identität“ wird nicht zum ersten mal bemüht, und es wird dabei der Eindruck erweckt, als bezeichne er etwas Tatsächliches, aus dem jeweils etwas Bestimmtes notwendig folgt, wo Menschen zusammenleben oder gemeinsam handeln. Kulturelle Identität erscheint als etwas, ohne das Menschen nicht in Frieden zusammenleben können, dessen zu geringe Ausprägung das Bestehen der einheimischen Kultur gefährdet und das gegen fremde Menschen und fremde kulturelle Praktiken verteidigt werden müsse. Ist das eine Ideologie oder mehr?

Huntingtons clash of civilisation


Eine inzwischen gut 20-jährige Debatte wird erneut laut, wie sie um die Thesen geführt wurde, die Samuel P. Huntington 1993 in der Zeitschrift Foreign Affairs aufgestellt und dann 1996 in aller Breite in seinem Buch The clash of civilisation and the remaking of world order ausgeführt hat. Huntington hatte dick aufgetragen:

»Konflikte von Zivilisationen sind die größte Gefahr für den Weltfrieden, und eine auf Zivilisationen basierende internationale Ordnung ist der sicherste Schutz vor einem Weltkrieg.«

Die angelsächsische Diskussion unterscheidet bemerkenswerterweise nicht zwischen Kultur und Zivilisation. Sie nennt zumeist beides civilisation. Kontinentale Denker neigen als gute Touristen und Museumsbesucher dazu, Kultur als einen Gegenbegriff zu Natur zu betrachten und unter Kultur das von Menschen Gemachte zu verstehen und damit zu verdinglichen. Man kann Kultur aber auch vor allem als Inbegriff der Art und Weise betrachten, wie Menschen miteinander umgehen, worüber sie wie sprechen, was sie glauben, was sie sich erlauben etc. Dann wären die Gegenbegriffe nicht Natur oder Naturgewalt, sondern z.B. Barbarei, oder die Rede vom „schönen Wilden“.

Huntington fasste damals seine dramatisierenden Argumentation eingangs seines Buches wie folgt zusammen:

“Kultur und die Identität von Kulturen, auf höchster Ebene also die Identität von Kulturkreisen, prägen heute, in der Welt nach dem Kalten Krieg, die Muster von Kohärenz, Desintegration und Konflikt. (...) Zum erstenmal in der Geschichte ist globale Politik sowohl multipolar als auch multikulturell; Verwestlichung ist etwas anderes als Modernisierung; und wirtschaftliche und soziale Modernisierung erzeugt weder eine universale Kultur irgendeiner Art noch die Verwestlichung nichtwestlicher Gesellschaften. (...)

Eine auf kulturellen Werten basierende Weltordnung ist im Entstehen begriffen: Gesellschaften, die durch kulturelle Affinitäten verbunden sind, kooperieren miteinander. Bemühungen, eine Gesellschaft von einem Kulturkreis in einen anderen zu verschieben, sind erfolglos(...). Seine universalistischen Ansprüche bringen den Westen zunehmend in Konflikt mit anderen Kulturkreisen, am gravierendsten mit dem Islam und China. Auf lokaler Ebene bewirken Bruchlinienkriege (im wesentlichen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen) den »Schulterschluß verwandter Länder« (...). Das Überleben des Westens hängt davon ab, daß die Amerikaner ihre westliche Identität bekräftigen (...).“
(Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, 4. Aufl., München 1998, S. 19 f.)

Kultur = Religion?


Was sind „kulturelle Affinitäten“? Wer genauer liest, wird nachfragen, was mit „Identität von Kulturkreisen“ gemeint ist. Soll die bloße Religionszugehörigkeit das konkrete Verhalten von Millionen Menschen heute so massiv prägen wie vielleicht im Mittelalter, bis hin zu Entscheidungen über Leben und Tod?

Die deutsche Diskussion über kulturelle Identität hat heute weniger den Weltfrieden im Blick als vielmehr den inneren Frieden und dessen Gefährdung.

Angesichts des Wirbels, den Huntingtons Thesen in den 90-er Jahren gemacht haben, scheint die Grundfrage immer schon beantwortet: gibt es so etwas wie kulturelle Identität überhaupt und oder ist dieses Konstrukt letztlich nichts als ein demagogischer Kampfbegriff? Welche Rolle spielt sie im Konzert der sehr viel vielfältigeren menschlichen Identität? Beweist nicht der Wirbel, der um Kulturkonflikte gemacht wird, dass es sie gibt, so wie Rauch beweist, dass Feuer da sein muss? Aber einschlägiger Wirbel ist kein Existenzbeweis.

„Blutige Grenzen des Islam“


Es gibt Argumente, die für Huntingtons Thesen zu sprechen scheinen. Da sind die „blutigen Grenzen des Islam“ . Hatte Huntington mit dieser Behauptung nicht 1996 recht und stimmt sie nicht heute noch genauso?

„Konflikte zwischen Gemeinschaften und Bruchlinienkriege sind der Stoff, aus dem Geschichte gemacht wird. Nach einer Zählung gab es während des Kalten Krieges 32 ethnische Konflikte, darunter Bruchlinienkriege zwischen Arabern und Israelis, Indern und Pakistanis, Muslimen und Christen im Sudan, Buddhisten und Tamilen auf Sri Lanka, Schiiten und Maroniten im Libanon. Etwa die Hälfte aller Bürgerkriege der vierziger und fünfziger Jahre, aber etwa drei Viertel aller Bürgerkriege der folgenden Jahrzehnte waren »Identitätskriege«, das heißt Kriege, die um die kulturelle Identität geführt wurden.“
(Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, ebd., S. 415)


Haben Muslime grundsätzlich Probleme, mit ihren Nachbarn friedlich zusammenzuleben?


Dabei hebt Hutchington besonders die bewaffneten Konflikte hervor, an denen islamische Kriegsparteien beteiligt waren.

„Starke Antagonismen und gewaltsame Konflikte sind zwischen lokalen muslimischen und nichtmuslimischen Bevölkerungen gang und gäbe. In Bosnien haben Muslime einen blutigen und verhängnisvollen Krieg mit orthodoxen Serben geführt und auch gegen katholische Kroaten Gewalt ausgeübt. Im Kosovo leiden albanische Muslime schwer unter der serbischen Herrschaft und unterhalten im Untergrund ihre eigene Schattenregierung, wobei beide Seiten den Ausbruch von Gewalt für sehr wahrscheinlich halten. Die albanische und die griechische Regierung streiten sich um die Rechte ihrer Minderheiten in dem jeweils anderen Land. Türken und Griechen liegen seit jeher im Clinch miteinander. Auf Zypern unterhalten muslimische Türken und orthodoxe Griechen zwei verfeindete, benachbarte Staaten. Im Kaukasus sind seit jeher die Türkei und Armenien Feinde, und Aserbaidschaner und Armenier haben um die Herrschaft über Berg-Karabach Krieg geführt. Im Kaukasus haben Tschetschenen, Inguschen und andere muslimische Völker seit zweihundert Jahren immer wieder um ihre Unabhängigkeit von Rußland gekämpft, ein Ringen, das Rußland und Tschetschenien 1994 auf blutige Weise wieder aufgenommen haben. Kämpfe hat es auch zwischen Inguschen und orthodoxen Osseten gegeben. Im Wolgabecken haben muslimische Tataren in der Vergangenheit gegen Russen gekämpft und heute einen problematischen Kompromiß mit Rußland über ihre begrenzte Souveränität geschlossen. Rußland hat im ganzen 19. Jahrhundert die Herrschaft über die muslimischen Völker Zentralasiens nach und nach gewaltsam ausgeweitet. Während der achtziger Jahre führten Afghanen und Russen einen großen Krieg gegeneinander, und nach dem Rückzug der Russen geht der Anschlußkrieg in Tadschikistan weiter, wo sich regierungstreue russische Truppen und überwiegend islamistische Aufständische gegenüberstehen. In Sinkiang (Xinjiang) kämpfen Uighuren und andere muslimische Gruppen gegen die Sinisierung und bauen Beziehungen zu ihren Kin-Gruppen in den früheren sowjetischen Republiken auf. Auf dem indischen Subkontinent haben Pakistan und Indien dreimal Krieg gegeneinander geführt, muslimische Aufständische stellen die Herrschaft Indiens in Kaschmir in Frage, muslimische Einwanderer kämpfen gegen Stammesangehörige in Assam, während Muslime und Hindus in ganz Indien regelmäßig in Unruhen und Gewalttätigkeiten verwickelt sind. Diese Ausbrüche werden noch angeheizt durch den Aufstieg fundamentalistischer Strömungen in beiden religiösen Gemeinschaften. In Bangladesch protestieren Buddhisten gegen die Diskrimierung durch die muslimische Mehrheit, während in Myanmar Muslime die Diskriminierung durch die buddhistische Mehrheit beklagen. In Malaysia und Indonesien kommt es regelmäßig zu muslimischen Protestkrawallen gegen Chinesen, die die Wirtschaft dominieren. In Südthailand waren muslimische Gruppen an sporadischen Erhebungen gegen eine buddhistische Regierung beteiligt, während auf den südlichen Philippinen muslimische Aufständische für die Unabhängigkeit von einem katholischen Land und einer katholischen Regierung kämpfen. In Indonesien wiederum kämpft das katholische Ost-Timor gegen eine repressive muslimische Regierung. Im Nahen Osten reicht der Konflikt zwischen Arabern und Juden in Palästina bis zur Besiedlung der jüdischen Heimstatt zurück, Israel und arabische Staaten haben viermal Krieg gegen einander geführt, und die Palästinenser haben zur Intifada gegen die israelische Herrschaft aufgerufen. Im Libanon haben maronitische Christen einen aussichtslosen Kampf gegen Schiiten und andere Muslime geführt. In Äthiopien haben die orthodoxen Amharen in vergangenen Zeiten muslimische Ethnien unterdrückt und sahen sich gerade mit einem Aufstand der mushmischen Oromos konfrontiert. In der Mitte Afrikas hat es eine Fülle von Konflikten zwischen den arabisch-muslimischen Völkern des Nordens und animistischen oder christlichen schwarzen Völkern des Südens gegeben. Der blutigste muslimisch-christliche Krieg ist der im Sudan, der seit Jahrzehnten andauert und Hunderttausende von Opfern gefordert hat. Die Politik Nigerias wird beherrscht von dem Konflikt zwischen den muslimischen Fulani-Haussa im Norden und christlichen Stämmen im Süden, wobei es häufig Unruhen und Staatsstreiche sowie einen großen Krieg gegeben hat. Vergleichbare Kämpfe zwischen muslimischen und christlichen Gruppen sind auch im Tschad, in Kenia und Tansania vorgefallen. An allen diesen Orten waren die Beziehungen zwischen Muslimen und Menschen anderer Kulturen - Katholiken, Protestanten, Orthodoxen, Hinduisten, Chinesen, Buddhisten, Juden - in der Regel feindselig; die meisten waren zu dem einen oder anderen Zeitpunkt in der Vergangenheit gewalttätig; viele sind in den neunziger Jahren gewalttätig gewesen. Wohin man im Umkreis des Islam blickt: Muslime haben Probleme, mit ihren Nachbarn friedlich zusammenzuleben.“
(Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, ebd., S.417 f.)

„Bruchlinienkriege“


Was Huntington präsentiert, ist nichts anderes als eine Sündenliste des Islam, dabei müsste man vieles davon in die Sündenliste des Kolonialismus schreiben. Natürlich weiß Huntington, dass jeder dieser Fälle daraufhin zu prüfen wäre, welche Interessen im Spiel sind und wer eigentlich jeweils zündelt, statt ganz generell zu formulieren: Muslime haben Probleme, mit ihren Nachbarn friedlich zusammenzuleben.“ Haben sie kulturelle Defizite, so wie man von charakterlichen Defiziten spricht?

Nun kann man Huntington nicht vorzuwerfen, dass er die Interessenlagen und Machtverhältnisse, die der Szenerie vorausgehen, an deren Ende islamische Kriegsparteien zu notorischen Aggressoren werden, völlig verschweigt. Der erste Golfkrieg und der sowjetisch-afghanische Krieg 1979-1989 beginnen als Invasion eines Landes durch ein anderes Land, zwei Kriege, „die jedoch in einen Krieg zwischen zwei Kulturen ausartete und weithin zu einem solchen umdefiniert wurde.“
(ebd., S. 400)

Huntington weiter:

„Einmal ausgebrochen, entwickeln Bruchlinienkriege wie andere Konflikte zwischen Gruppierungen ein Eigenleben und entwickeln sich nach dem Schema von Aktion und Reaktion, Druck und Gegendruck. Identitäten, die früher vielfältig und beiläufig gewesen waren, fokussieren und verfestigen sich; Konflikte zwischen Gruppierungen nennt man zutreffend »Identitätskriege «. Mit zunehmender Gewalt werden die ursprünglichen Streitfragen im Sinne eines »Wir gegen sie« umdefiniert, und Zusammenhalt und Engagement der Gruppe nehmen zu. Politische Führer erweitern und vertiefen ihre Appelle an die ethnische und religiöse Loyalität. Das Kulturbewußtsein steigert sich im Verhältnis zu anderen Identitäten. Es entsteht eine »Haßdynamik«.“ (dito, S. 434)

Oder auch etwas unscharf nachgedacht:

„Im Verlaufe des Bruchlinienkrieges verblassen Mehrfachidentitäten, und es setzt sich diejenige Identität als dominierend durch, die in bezug auf den Konflikt die wesentlichste ist. Diese Identität ist fast immer religiös definiert. Psychologisch gesehen bietet die Religion die gewisseste und stabilste Rechtfertigung für den Kampf gegen »gottlose« Mächte, die als bedrohlich empfunden werden.“ (dito, S. 436)

Dieses Argument ist teils richtig beobachtet, teils tautologisch. Es scheint zu stimmen, dass Kriege Mehrfachidentitäten verblassen lassen. Dass die Identitätsmomente in den Vordergrund treten, die dominierend sind, ist hingegen tautologisch. Es dominiert, was dominiert. Was sonst! Und was, wenn nicht eine Religion, sollte den Kampf gegen »gottlose« rechtfertigen? Die religiöse Begründung von Kriegen ist nicht mit dem Ende des kalten Krieges neu in die Welt gekommen. Und sie ist heute keineswegs konkurrenzlos, wenn es darum geht, Menschen zu Kriegszwecken auf das ihnen Gemeinsame zu reduzieren. Man kann mit Freiheit, Fortschritt, Unabhängigkeit, Kampf gegen Beraubung, überhaupt Notwehr und vielem mehr Kriege begründen. Gott braucht man dazu nicht unbedingt. Aber vielleicht hat Gott in der Hierarchie der Kriegsgründe in bestimmten Situationen (und Kulturen) Vorteile. Das wäre zu untersuchen.


Eindimensionale Identität


Ich denke, dass man mit Huntington festhalten sollte, dass Kriege - und nicht nur Bruchlinienkriege - Mehrfachidentitäten verblassen lassen und das bereits deshalb, weil sie zwingen, den Menschen, der eben noch mein Nachbar mit vielfältigen Eigenschaften war, auf den Feind und die Gefahr zu reduzieren, die er für mich darstellt, und weil Kriege meine Möglichkeiten, mich selbst in vielerlei Rollen zurechtzufinden, auf die Eindimensionalität des Soldaten, des Gefangenen oder des Flüchtlings reduzieren.

Huntington gibt für dieses Reduktionsgeschehen Beispiele:

„Eine dramatische Intensivierung kultureller Identifikationen gab es in Bosnien, besonders in dessen muslimischer Gemeinde. Historisch gesehen, waren die Gemeinschaftsidentitäten in Bosnien nicht stark ausgeprägt: Serben, Kroaten und Muslime lebten friedlich als Nachbarn zusammen; Mischehen waren an der Tagesordnung; die religiöse Identifikation war schwach ausgebildet. Muslime, so sagte man, seien Bosnier, die nicht in die Moschee gingen, Kroaten seien Bosnier, die nicht in den Dom gingen, und Serben seien Bosnier, die nicht in die orthodoxe Kirche gingen. Als jedoch die übergreifende jugoslawische Identität zusammenbrach, gewannen diese beiläufigen religiösen Identitäten neue Bedeutung, und als das Kämpfen begann, verstärkten sie sich. Die Koexistenz von vielen Bevölkerungsgruppen löste sich auf, und jede Gruppe identifizierte sich zunehmend mit ihrer jeweiligen kulturellen Gemeinschaft und definierte sich in religiösen Begriffen. Bosnische Serben wurden zu extremen serbischen Nationalisten, die sich mit Groß-Serbien, der serbisch-orthodoxen Kirche und der gesamten Orthodoxie identifizierten. Bosnische Kroaten wurden die glühendsten kroatischen Nationalisten und pochten auf ihren Katholizismus sowie, gemeinsam mit den Kroaten Kroatiens, auf ihre Identifikation mit dem katholischen Westen.“
(dito. S. 438)

Huntigton spricht hier offenbar weniger über Identitäten als über deren Kollaps. „Übergreifende jugoslawische Identität“ ist etwas sehr viel Unbestimmteres als die jeweilige Einheit zweier sich entlang von Religionsgrenzen bildenden Kriegsparteien.

Amartya Sen nennt es "Identitätsfalle"


Der Vorwurf, Identität reduktionistisch zu denken, wurde Huntingtons Clash of civilisations von vielen Seiten gemacht, am prominentesten wohl vom Nobelpreisträger Amartya Sen (A. Sen, Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, München 2007).

Es scheint, so Sen, nur dann einen "Krieg der Kulturen" zwischen dem Westen und dem Islam zu geben, wenn man das, was die Identität eines Menschen ausmacht, extrem auf bestimmte Einzelaspekte zusammenstutzt. Wer die Welt in Blöcke aus Religionen aufteilt, unterschlägt andere prägende Faktoren des Daseins wie Geschlecht, Bildung, Beruf, Sprache, soziale Klasse und persönliche Bindungen, Verwandtschaften etc.. Daher scheint es eine unzulässige Reduktion zu sein, kulturelle auf religiöse Identität zu reduzieren. Wenn die Beziehungen zwischen menschlichen Individuen auf einen "Krieg der Kulturen" reduziert werden, dann schnappt, wie Sen sagt, die "Identitätsfalle" zu. Existenz wird „miniaturisiert“. Das wird, so Sen, oft zum Beginn einer Gewaltspirale, die sich anders, als ihre Ideologen behaupten, durchaus stoppen lässt.

Fragen zum Begriff


Zu fragen wäre, ob es Religion ist – und dann insbesondere der Islam mehr als andere Religionen –, die in Konflikte und Krieg treibt, oder nicht vielmehr benennbare Kriegstreiber, die sich der Religion als eines situativ besonders geeigneten, letztlich aber beliebigen Mittels bedienen, um gewaltsame Konfrontation zu erzeugen und darin Unterordnung zu fordern, zu begründen und imaginär zu belohnen.

Sind kulturelle Identität und Religionszugehörigkeit im weitesten Sinn das selbe? Das würde voraussetzen, dass die Religion die ganz und gar dominante geistige Formation in einer historischen Kultur ist. Das ist heute weniger denn je der Fall. Nach wie vor sind Religionen die vollständigsten Welterzählungen, weil sie mit der Lückenhaftigkeit der Wissenschaften kein Problem haben. Es sind Narrative mit Anfang und Ende.

Was aber macht kulturelle Identität aus? Inwiefern kann kulturelle Identität etwas Gemeinsames sein, wenn doch die Institutionen und Praktiken, die eine Kultur anbietet, ganz und gar nicht von allen Menschen gleich oder auch nur ähnlich erlebt werden? Für den einen war der Besuch einer bestimmten Schule eine Katastrophe, für den anderen eine Erleuchtung. Wie soll es von hier aus zu einer identischen gemeinsamen Bezugnahme auf einen kulturellen Sachverhalt kommen?

Identität als reale Verarmung


Möglicherweise ist kulturelle Identität besser als aufgezwungene Reduktion beschreibbar, wie man sie in eskalierenden Konflikten findet, deren Parteien sich gerade formieren. ... reale Verarmung insofern, als eskalierende Konflikte unsere Möglichkeiten beschneiden und uns in der Tat nicht mehr gestatten, uns an dem selbst zu erkennen (=Identität), was wir sein könnten. Krieg reduziert alle auf die Eintönigkeit der Gewalt.

Das knüpft an die Frage von oben an: wenn wir kulturelle Identität im Tun wiederfinden wollen, dann nicht als dessen Grund, sondern als dessen integralen Bestandteil, z.B. als Verabredungs- oder Begründungssequenz. Als das kann sie Möglichkeiten beschränken z.B. dadurch, dass sie Menschen, die sich nicht einreihen, zu Verrätern oder Fremden stempelt.

Möglicherweise kommt es zu „kultureller Identität“ oft erst in dem Augenblick, in dem man uns zu den Fahnen ruft, denen des Krieges und des Alltags, also in dem Augenblick, in dem es uns unmöglich wird, uns selbst in einer komplexeren Umgebung wiederzuerkennen. Die Fahnen können die einer Kriegspartei sein, eines Fußballvereins, das Logo des Arbeitgebers, ein Wappen oder das Kreuz. Interessant wäre es, Huntington zu fragen, wodurch denn ein Moslem zu einem Menschen wird, der mit seinen Nachbarn nicht auskommt? Welche Köche arbeiten an der Reduktion dieser Soße? Kulturleistung mag die Trockenlegung der Zuiderzee sein, Geburtsstunde der kulturellen Identität könnte hingegen die Drohung mit dem Dammbruch sein, also der Moment der Beschränkung, der Fokussierung.

weiter zu Teil 2...



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